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EVANA Interview mit Prof. Dr. Jörg Luy, Veterinärmediziner an der Freien Universität Berlin

Prof Luy in the EU

"Verbraucher signalisieren, dass sie auch beim Tierschutz verantwortungsbewusste Kaufentscheidungen treffen wollen"

Prof. Dr. Jörg Luy, Veterinärmediziner an der Freien Universität Berlin, war einer der Redner bei der Konferenz “Animal Welfare Education” , die am 1. und 2. Oktober 2010 vom EU Direktorat Gesundheit und Verbraucherpolitik in Brüssel organisiert wurde. Er ist Fachtierarzt für Tierschutz und Magister der Philosophie. Luy leitet seit 2004 das Institut für Tierschutz und Tierverhalten am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin.

Januar 2011


EVANA: Herr Professor Luy, können Sie uns kurz das Projekt DIALREL (Dialogue on issues of Religious Slaughter) erklären, an dem Sie massgeblich beteiligt sind?

Professor Luy: Bei DIALREL handelt es sich um ein gerade abgeschlossenes interdisziplinäres EU-Projekt von 16 über die Welt verteilten wissenschaftlichen Einrichtungen. Es ging einerseits um die Recherche und Dokumentation aller verfügbaren tierärztlichen, sozio-ökonomischen, rechtlichen und ethischen Informationen zum Konflikt um die betäubungslose Form der religiösen Schlachtung (es gibt auch Formen der religiösen Schlachtung mit Betäubung), sowie andererseits um die Initiierung und Moderation eines internationalen und multikulturellen Dialogs über die Problematik. Die umfangreichen Reports und die sehr prägnanten Factsheets der verschiedenen Projektgruppen finden sich auf der Projektwebsite.


Frage: In Ihrem Vortrag bei der EU-Konferenz sagten Sie, dass Deutsche sich weder für den Tierschutz organisieren noch als Tierschützer bekennen mögen und klare Stellungnahmen meiden. Ausserdem gelten Tierschutzorganisationen als ‘unfreundlich und nicht attraktiv’. Tritt die Ethik Debatte in Deutschland auf der Stelle? Was ist schief gelaufen?

Antwort: Es scheint in der Tat etwas schief gelaufen zu sein, denn selbst unter den wenigen, die sich in Deutschland ehrenamtlich für den Tierschutz einsetzen, gilt die Bezeichnung “Tierschützer” häufig nicht als Kompliment. Während insbesondere Umfragen und Studien des Einkaufsverhaltens darauf hindeuten, dass weiten Kreisen der Bevölkerung ein tierschutzgerechter Umgang mit den Tieren wichtig ist, stellt sich kaum jemand persönlich einer Tierschutzdebatte. Vielleicht fehlt moralischen Argumenten zugunsten des Tierschutzes bis heute die Alltagstauglichkeit bzw. die argumentative Kraft insbesondere ökonomische Argumente zu überwiegen. Das könnte wiederum damit zu tun haben, dass seit Jahrzehnten die Pflege eines gesellschaftlichen Konsens’ zu Wertfragen vernachlässigt wurde, wodurch tierethischen Argumenten der Boden von allgemein anerkannten Prinzipien abhanden gekommen ist. Dazu kommt das gezielte Spiel mit der scheinbaren Unmöglichkeit, gewachsene wirtschaftliche Strukturen zu verändern. Die Resignation, nichts Effektives machen zu können, vermute ich als eine der wichtigeren Ursachen dafür, nicht öffentlich für Gerechtigkeit aufzustehen.


Frage: In der EU-Konferenz wurde die Wichtigkeit von mehr Tierschutz unterstrichen, für den nach dem Willen der Fleischindustrie der Konsument tiefer in die Tasche greifen soll. Können EU-Bürger bei höheren Preisen denn wenigstens sicher sein, dass ihr finanzieller Einsatz für bessere Lebens- und Tötungsbedingungen der Tiere tatsächlich honoriert wird? Wie sieht es aus mit Labels, Garantien und Kontrollen?

Antwort: Die Idee der EU-Kommission, die wissenschaftlichen Kriterien und die Standardisierung für ein EU-Tierschutzsiegel (ähnlich dem Bio-Siegel) sicherzustellen, kommt zur richtigen Zeit, da die Verbraucher signalisieren, dass sie auch beim Tierschutz verantwortungsbewusste Kaufentscheidungen treffen wollen. Die Sicherheit, nach der Sie fragen, hängt jedoch über weite Strecken von der Art der Umsetzung ab. Gegenwärtig versuchen starke wirtschaftliche Kräfte sogar, das ganze Projekt zu verhindern. Deswegen wäre es im Augenblick vor allem wichtig, Signale nach Brüssel und Berlin zu senden, dass die Verbraucher ein wissenschaftsgestütztes Tierschutzsiegel auf ihren Lebensmitteln sehen möchten.


Frage: Es gibt viele erschütternde Video-Aufnahmen, die das Zerstückeln von Rindern bei vollem Bewusstsein dokumentieren, sogar in EU-Musterschlachthöfen. Nach vielen Skandalen in den USA und Grossbritannien spricht man dort nun von Video-Überwachungen in den Betrieben. Ist es denkbar, dass ein solches System eines Tages EU-weit eingeführt wird?

Antwort: Die Häufigkeit von Skandalen bei Lebensmitteln aus Fleisch ist auffallend hoch, und Transparenz scheint das beste Mittel dagegen zu sein. Aber eine Video-Überwachung von Schlachthöfen wäre dennoch kaum hilfreich, da auf diesen Bildern nur die augenscheinlichen Verstöße sichtbar würden, nicht aber diejenigen, die nur aktiv durch Tierärzte demonstriert werden können, wie beispielsweise Reflexprüfungen zum Nachweis (nicht) ausreichender Betäubungstiefe.


Frage: Vegetarier werden auf nationaler, europäischer (EU) und auch internationaler (UN und Agenturen) Ebene konsequent ignoriert: es gibt sie offiziell nicht. Daher werden auch keine vegetarischen Ernährungsrichtlinien, Beratungen oder andere offizielle Absegnungen dieser Ernährungsweise angeboten. Auch Petitionen und Aufrufe werden nicht beantwortet, z.B. die Forderung von Brigitte Bardot nach einem EU-weiten vegetarischen Tag pro Jahr (nicht pro Woche!) Aus welchem Grund wird eine schliesslich recht stattliche Minderheit einfach totgeschwiegen? Keiner anderen Gruppe mit besonderen Interessen würde man eine derartige Nichtbeachtung zumuten. Sind Vegetarier zu friedlich in einer fleischlastigen Umwelt?

Antwort: Über diesen Umstand lässt sich nur spekulieren. Zum einen ist festzuhalten, dass fleischlose Ernährung in den letzten Jahren doch stark zunehmend den Weg in die Medien und die öffentliche Debatte gefunden hat. Die dennoch verbreitete Tabuisierung erkläre ich mir mit dem Dilemma zwischen der Lust auf Fleisch und der Schwierigkeit, dafür die Verantwortung übernehmen zu können.


Frage: Laut dem WWF ‘Living Planet Report’ für das Jahr 2010 wurden die ersten vier Länder mit dem grössten ökologischen Fussabdruck genannt, nämlich die Vereinten Arabischen Emirate, Qatar, Dänemark und Belgien, gefolgt von den USA. Tierfabriken stellen einen besonders heiklen Punkt dar fuer das schlechte Abschneiden in vielen Faellen. Die Frage stellt sich also, wie unsere Welt im Jahre 2050 aussehen wird. Dann erwartet man nämlich, und zwar mit Absegnung der FAO und unter Einsatz aller nur erdenklichen und fragwürdigen und gefährlichen Techniken, eine Verdoppelung der heutigen Fleischmenge.

Antwort: Die Nutztierhaltung stellt ein letztes Erbe der Steinzeit dar. Ich gehe davon aus, dass bis zum Jahr 2050 die technischen Innovationen zum Ersatz von Fleisch weit fortgeschritten sind. Ich kann mir vorstellen, dass der Verzehr von Tieren im Jahr 2100 als Unsitte der Vergangenheit betrachtet wird. Synthetische Lebensmittel sind zwar unromantisch, aber viel vernünftiger, weil potenziell in der Lage, mit deutlich weniger Nebenwirkungen und Gesundheitsrisiken produziert zu werden. Die uns augenblicklich noch irritierende "Künstlichkeit" solcher Lebensmittel ist in medizinischer Hinsicht nicht problematischer als die von Multivitamin-Saft.


Frage: „Ein Kind, das heute verhungert, wird ermordet“, stellte Jean Ziegler, Schweizer Soziologe und ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, fest. Und tatsächlich stirbt ein Kind alle fünf Sekunden irgendwo in der Welt an den Folgen von Unterernährung, während gleichzeitig riesige Mengen verfügbarer Nahrungsmittel in Tierfabriken landen. Was sagt diese Tatsache aus über die menschliche Solidarität im globalen Dorf?

Antwort: Menschen sind allerorts zur Empathie befähigt – Einfühlung in Tiere eingeschlossen. Fürsorge wird jedoch nur tradierten Kreisen gegenüber praktiziert, dies begünstigt mancherorts den Familienclan, andernorts die eigene Ethnie, und nur selten – gewissermaßen als kulturelle Höchstleistung – die Gesamtheit leidensfähiger Wesen. Diese Traditionen verändern sich erstens nur unter einem gewissen Druck und zweitens nur sehr langsam. Beispielsweise arbeitet Europa seit über 200 Jahren kontinuierlich und im Großen und Ganzen erfolgreich daran, die Gesamtheit leidensfähiger Wesen unter politisch-rechtlichen Schutz zu stellen, während manche andere Kontinente den Zwischenschritt zu bewältigen haben, erst einmal ein Verantwortungsgefühl für Mitmenschen zu verbreiten. Bei anhaltendem Engagement bin ich vom Erfolg solcher Bemühungen überzeugt; es dauert aber – Rückschläge eingeschlossen – eine quälende Ewigkeit.


Frage: Einige Experten der FAO und andere Wissenschaftler empfehlen schon seit längerer Zeit den Verzehr von Insekten und Nagern. Wird der Appetit auf Fleisch in Zukunft so gestillt werden müssen? Oder könnte Kunstfleisch rechtzeitig genug auf dem Markt landen und Fleischfans eine solche Krabbel- und Nagetierkost ersparen?

Antwort: Angesichts der ökologischen Nebenwirkungen und der Gesundheitsrisiken der gegenwärtigen, vom Tier stammenden Nahrungsmittel halte ich Kunstfleisch (mit naturidentischer Zusammensetzung und Textur) für langfristig alternativlos. In der Zwischenzeit könnten, aus der Not geboren, aber auch andere Mittel zur Ernährung genutzt werden.


Frage: Sie sprachen von Rueckschlaegen bei Nichtbeachtung kritischer Argumente und wiesen auf die Debatte über Tierversuche im Europaparlament hin, die nach Meinung vieler Experten zu einem mehr als fragwürdigen Ergebnis führte. Gibt es für besorgte Tierfreunde irgendwelche Möglichkeiten, auch heute noch das Resultat und damit das Los von Versuchstieren zu verbessern?

Antwort: Die Macht des Verbrauchers ist nicht größer, aber auch nicht kleiner als die des Wählers. Obwohl dies auf den ersten Blick deprimierend klingt, ist die Bildung von Interessengruppen mit exponentiell wachsender Macht über die Herstellungsprozesse verbunden.


Frage: Was kann eine Einzelperson oder auch eine Organisation tun, um sich gegen Ungerechtigkeiten im EU-Apparat zu wehren, z.B. die Tatsache, dass Stierkämpfe von europäischen Steuerzahlern zwangsfinanziert werden? Oder dass Fahrer von Tiertransporten, die sich nicht an Vorgaben halten, unbehelligt bleiben, ausser vielleicht in Italien?

Antwort: Es war in der Vergangenheit immer vorteilhaft, aus dem diffusen Informationsgeflecht diejenigen Argumente klar herauszupräparieren, die direkt das Ungerechtigkeitsempfinden ansprechen, wie beispielsweise der Verweis auf unser aller Steuergeld. Solche Argumente sollten in dieser nüchternen Form, d.h. völlig befreit vom Ballast weiterer Aspekte, allgemein bekannt gemacht werden. Die demgegenüber häufig praktizierte Schrotschuss-Technik, kummulierten Argumentationssalat zu verbreiten, halte ich für überhaupt nicht zielführend, da diese Technik es dem Adressaten leicht macht, unter Verweis auf ein assoziiertes schwächeres Argument das Problem zu tabuisieren, um sich selbst vor Veränderung zu schützen.


Frage: Sehen Sie eine Gefahr, dass der bisher mühsam erarbeitete Schutz von Tieren ein Opfer der gegenwärtigen finanziellen Schwierigkeiten in Europa werden könnte?

Antwort: Ganz im Gegenteil erwarte ich langfristig eine deutliche Wendung zum Besseren, nachdem dieses Finanzsystem zusammengebrochen sein wird. Die Geschichte lässt hoffen, dass wir auch aus dieser Katastrophe lernen werden – was dem Gedanken einer nachhaltigen und maßvollen Nutzung unserer Ressourcen den benötigten Rückenwind generieren wird. Ich könnte mir beispielsweise gut vorstellen, dass bei diesem Prozess das Interesse an fleischloser Ernährung deutlich zunimmt.

Herr Professor Luy, wir danken Ihnen, dass Sie sich die Zeit zur Beantwortung dieser Fragen genommen haben.


Quellen:
1. Luy, J., Lengauer, E.: Tierethik. In: Enzyklopädie Philosophie, 2. Aufl., Hamburg: Felix Meiner Vlg., 2010.
2. Luy, J.: DIALREL Ethics Workshop 1 - Ethical evaluation of six political options for religious slaughter. In: Caspar, J., Luy, J. (Hrsg., 2010): Tierschutz bei der religiösen Schlachtung /Animal Welfare at Religious Slaughter. Die Ethik-Workshops des DIALREL Projekts / The Ethics Workshops of the DIALREL Project. Baden-Baden: NOMOS, 15-21, 203-209. Volltext-pdf: http://library.vetmed.fu-berlin.de/resources/global/contents/3745267/Luy_DIALREL.pdf
3. Luy, J.: Ein Leitfaden für die Teilprüfung der „ethischen Vertretbarkeit“. In: Borchers, D., Luy, J. (Hrsg., 2009): Der ethisch vertretbare Tierversuch – Kriterien und Grenzen. Paderborn: mentis, 173-191.
4. Luy, J., Hertel, Ch.: „Ethischer“ Mehrwert – Das Verantwortungsprofil von Lebensmittelherstellern und seine Vermarktung aus Sicht der Ethik. In: DLG (Hrsg.): Profil durch Verantwortung. Die neue Rolle der Lebensmittelhersteller. Frankfurt/Main: DLG-Verlag (2008), 13-34.
5. Luy, J.: Tierschutzethik aus amtstierärztlicher Sicht. In: Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft Tierethik Heidelberg (Hrsg.): Tierrechte, eine interdisziplinäre Herausforderung. 1. Aufl. (2007) Erlangen: Harald Fischer Verlag, 198-205.
6. Luy, J.: Leistungsabhängige Gesundheitsstörungen bei Nutztieren – die ethische Dimension. Berl. Münch. Tierärztl. Wschr. (2006) 119, 373-385.
7. Luy, J.: Das ethische Mindestmaß beim Tierschutz - Eine Auswirkung des Staatsziels "ethischer Tierschutz" auf die Legislative. Berl. Münch. Tierärztl. Wschr. (2005) 118, 89-94.


Source: Jörg Peter Luy - Wikipedia
Author: Die Fragen stellte Herma Caelen


Date: 2011-01-13